Uelzen, am Montag den 18.08.2025

Flut, Mehrwertsteuer, Glamour

von Carlo Eggeling am 30.12.2023


Meine Woche
Gummistiefel

Ich glaube, Olaf Scholz besitzt keine Gummistiefel. Oder zu wenig politisches Gespür. Als das Hochwasser 2002 in Sachsen Dörfer und Städte flutete, stapfte Bundeskanzler Gerhard Schröder in schwarzen Stiefeln durch Grimma bei Dresden. Eine Erzählung geht so: Die Anteilnahme sicherte ihm kurz darauf die Wiederwahl. 2006 schwappte die Elbe durch Hitzacker, die damalige Kanzlerin Angela Merkel besuchte die Elbestadt. Politisches Kalkül, na klar, aber eben auch ein Zeichen der Solidarität.

Niedersachsen, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen haben mit überquellenden Flüssen zu kämpfen. Noch ist Kanzler Scholz nirgends aufgetaucht. In Schleswig-Holstein sind sie gelinde gesagt enttäuscht von dem SPD-Mann, denn auf zugesagte finanzielle Hilfen nach Zerstörungen durch das Ostseehochwasser im vergangenen Oktober warten sie an den Küsten vergebens.

All das vor einem in weiten Teilen verdrossenem Land. Eine Umfrage des Spiegel hat gerade ergeben, dass rund Dreiviertel der Befragten finden, dass wir schlechter dastehen als vor einem Jahr. Nahezu jeder zweite empfindet das für sich persönlich ebenso. Der Unmut über eine zerstrittene Regierung ist groß, es wäre mehr als eine Überlegung wert, sich ein paar Gummistiefel zu kaufen, vor Ort Zuversicht, Mut und Zupacken zeigen. So wie das Abertausende Feuerwehrleute, THWler und Kollegen aus den Rettungsdiensten tun. Die, die so oft da sind, wenn nach Fluten und Unwettern geholfen werden muss. Die beweisen, dass Solidarität selbstverständlich ist.

Im Protest gegen die Regierung vereinen sich viele, weil es gegen die "da oben" geht. Die Bauern sind sauer, weil ihnen der subventionierte Diesel gestrichen werden soll, Wirte weil die Mehrwertsteuer wieder auf den alten Satz von 19 Prozent steigt -- der Grund ist verschwunden, die Corona-Krise ist zu Ende. Die Ampel muss weg, steht auf Plakaten. Was kommt dann? Die AfD, wie manche meinen? Wäre nicht clever. In deren Grundsatzprogramm steht: "Sofern im Einzelfall Subventionen wirtschaftspolitisch sinnvoll erscheinen, sind sie zeitlich zu befristen. Jenseits der Daseinsvorsorge darf der Staat nur in Ausnahmefällen unternehmerisch tätig sein." Übersetzt: Dauerhilfen wie den subventionierten Diesel oder die Gastro-Stütze gäbe es ruck zuck nicht mehr.

Diesem grundsätzlichen Gefühl, Opfer zu sein, könnte die Regierung entgegenhalten: Insgesamt sind wir gut durch die Corona-Zeit gekommen, es musste -- anders als vor einem guten Jahr befürchtet -- niemand frieren, die Energiekrise blieb überschaubar, es wurden zahlreiche Entlastungen beschlossen, die vielen zwischen Flensburg und Fürstenfeldbruck zugute kommen. Der Staat ist nicht Amazon: bestellen, sofort liefern und wenn's nicht gefällt, meckern und zurück. Der Staat sind wir alle.

Die angeblichen Protestwähler, die sich ausgewiesenen Rechtsextremisten nahefühlen, sollten sich fragen, ob sie bei einer entsprechenden Regierung noch Demonstrationen erleben würden, die sich gegen die Regierung richten. Die Anhänger scheinen eh in einer gewissen Diskrepanz zu leben: Sie fordern einerseits, dass der Staat sich möglichst raushalten soll aus dem Leben, andererseits soll er stark sein, um vor allen Unwägbarkeiten des Lebens zu schützen. Geht schlecht zusammen. Aber das erleben wir ja öfter.

Weniger Auto fahren, gleichzeitig steigen Zulassungszahlen, und die Kisten werden größer. Geknallt werden soll nicht zu Silvester, unter anderem weil der Dackel ob des Krachs angeblich zu kollabieren droht, gleichzeitig kaufen mutmaßlich Haustierhasser für 180 Millionen Euro Feuerwerk. So viel wie nie. Die Welt ist voller Widersprüche.

Ich habe bei einem Kollegen gelesen, wie sich manche einst kritisch beäugte Entscheidung für Lüneburg ins Positive gewandelt hat. Da hat er Recht. Lüneburg atmete auf, wie der Slogan Anfang der 1990er Jahre bei der Verkehrsberuhigung versprach. Auch dass von den 6500 Soldaten viele gingen, weil man nach der Wende keine drei Kasernen mehr brauchte und so unter anderem aus Pädagogischer Hochschule und Fachhochschule die Uni entstehen und wachsen konnte, tat dem jungen Gesicht der Stadt gut. All das erkenne man im "Rückspiegel". Klar, heute sind die guten alten Zeiten, an die wir uns irgendwann erinnern, wusste der Poet des Absurden, Karl Valentin.

Allerdings gab es damals einige, die eine Vision besaßen und dafür kämpften. Daran scheint es zu mangeln. Mut, Gegenwind aushalten, Bürger gewinnen und mitnehmen. Was soll's, ein neues Jahr beginnt. Da kann sich so viel drehen, war ja mal versprochen. Wenn nicht, macht nix, das Rathaus hat noch nie so viele heitere Bilder geliefert wie heute. Pressestelle oder PR-Abteilung? Egal, im Rat fragt man und frau nicht mehr so oft nach wie vor ein paar Jahren. Freuen wir uns über ein wohliges Gefühl — Glamour mit Bürgermeisterkette auch wenn Lüneburg einen Minus-Haushalt nach dem anderen aufstellt. Wo sind die Gummistiefel?

Bleiben wir zuversichtlich, schließlich feiern wir morgen Silvester. Da perlt und prickelt es zumindest im Glas. In diesem Sinne: Guten Rutsch. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


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