Uelzen, am Montag den 18.08.2025

Hass ist ein Zustand, der die Seele verwüstet — Éva Fahidi-Pusztai ist gestorben

von Carlo Eggeling am 01.10.2023




In den Augen der SS-Männer seien die Häftlinge weniger als nichts gewesen. Doch sie habe sich ihnen überlegen gefühlt, sagt Éva Pusztai-Fahidi. „Meine Seele wollten sie mir wegnehmen, ich habe sie nicht gelassen.“ Sie hat an Goethes Faust gedacht, an die Texte von zehn Wagner-Opern, die sie gelesen hatte, deren Musik sie in sich spürte. „Ich habe mich über ihnen gefühlt.“ Ein innerer Schutzraum in Auschwitz. Den sie gebraucht habe, um ihre Würde nicht zu verlieren, wenn sie kahl geschoren, nackt, namenlos vor den Bewachern stand.

So habe ich im April 2015 den Text über Éva Fahidi-Pusztai begonnen. Damals verhandelte die 4. Große Strafkammer am Landgericht Lüneburg über Oskar Gröning, den Buchhalter von Auschwitz, wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 300 000 Fällen. Die Ungarin war eine der Nebenklägerinnen in dem Prozess. Eine, die sprach über das Unvorstellbare, was Menschen Menschen antun können. Dass ein Opfer kein Opfer bleiben muss, dass man Leid überwinden und so gar verzeihen kann. Das man am Ende noch oder wieder Mensch sein kann. Jetzt habe ich gelesen, dass Éva Pusztai-Fahidi gestorben ist, kurz vor ihrem 98. Geburtstag.

Sie gehörte zu den 65 Nebenklägern im Verfahren. Nicht alle konnten damals in den Saal der Ritterakademie kommen, sie waren zu alt oder zu gebrechlich. Es war ein Prozess, auf den die Welt blickte. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes saßen die Richter auch über Deutschland und seine Aufarbeitung des millionenfachen Mordes an Juden und allen, die nicht in Hitlers Weltbild passten, zu Gericht.

Die in Debrecen geborene Ungarin war mit ihrer Enkeltochter Luca an die Ilmenau kommen, beide konnte hinreißend lachen als wir zusammensaßen. Andreas Tamme hat es in einem Foto festgehalten. Es klingt gestanzt, ich weiß, aber die alte Dame hat mich tief berührt. Weißes Haar, klein, zierlich, elegant, ein fester Händedruck, Lachfältchen um die Augen, charmant, ein altertümliches Deutsch mit ungarischer Färbung. Man kann viel lesen über die Nazi, in Eugen Kogons SS-Staat, in den Biografien Peter Longerichs über die Machthaber und bei vielen anderen. Aber was Éva Pusztai-Fahidi erzählte, war nah -- und eine Hoffnung.

49 Verwandte verlor sie in den Lagern der Nazis. Ihre Mutter, „eine dekorative Dame von 39 Jahren“, ihre Cousine und deren sechs Monate altes Kind wurden auf der Rampe ins Gas geschickt. Sie wusste nicht, wann und wie ihr Vater starb. Sie habe sich immer wieder gefragt: „Warum bin gerade ich am Leben geblieben? Warum, warum?“ Zweimal habe sie der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele statt ins Gas zur Zwangsarbeit geschickt: „Er hat mich zum Leben verurteilt.“

Sie lebte mit ihrer großbürgerlichen Familie in der Tradition der österreichischen K.u.K-Monarchie in Debrecen, lernte Ungarisch, Deutsch, Slowakisch. Achtzehneinhalb glückliche Jahre in Liebe habe ihre Familie ihr geschenkt, bis sie im Juni 1944 von der ungarischen Gendarmerie, die mit den Nationalsozialisten kooperierte, festgenommen und dann in einem Zug nach Auschwitz deportiert wurde.

Kraft habe ihr dort eine „Zweitfamilie“ gegeben: Die Wachmannschaften hielten Zählappelle ab, immer in Fünfer-Reihen. Sie sei in ihrer Gruppe mit 18 die Älteste gewesen, die anderen 17, 16 und 14 Jahre alt. Éva Pusztai-Fahidi erzählt, wie sich die Mädchen Trost und Hoffnung gespendet haben, wie es half zu überleben. Nach sechs Wochen wurde sie aus Auschwitz zur Sklavenarbeit in die Sprengstoffwerke Allendorf geschickt, Münchmühle war ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar. Es gelang ihr am Kriegsende, bei einem Todesmarsch zu entkommen.

1945 will sie nie wieder nach Deutschland zurückkehren, nie wieder ein deutsches Wort sprechen. Das ändert sich 1989, als Stadtallendorf sie und andere ehemalige KZ-Häftlinge einlädt, der Ort, in dem sie mit Hunderten anderen in der Sprengstofffabrik schuften musste. Stadtallendorf ist nach dem Krieg durch Flüchtlinge aus einem Dorf zu einer Stadt gewachsen. „Als ich ankam, wurde ich auf Deutsch freundlich angesprochen, menschlich. Ich merkte, dass Deutsch nicht nur gebrüllt werden muss. Leute haben sich geschämt, um Verzeihung gebeten. Menschen, die damals gar nicht dabei waren.“ Es verändert sie. Sie geht in Schulen, um zu schildern, was Menschen Menschen antun können und dass es Hoffnung gibt.

Sie saß damals im Gerichtssaal, Oskar Gröning im Blick, der zwar eine moralische, aber keine juristische Schuld einräumen wollte. Neo-Nazis hatten versucht, in den Saal zukommen, das konnte die Antifa weitgehend verhindern. Sie hatte die Aktion Platzhalter gestartet, vor allem junge Leute stellten sich früh an, um die Stühle zu besetzen und um Platz zu machen für die, zuhören wollten. Denn das war anders an Gröning: Er leugnete Auschwitz und den Massenmord nicht. Anders als Rechtsextremisten, die behaupteten, Auschwitz sei eine Erfindung der Alliierten.

Éva Fahidi-Pusztai glaubte Gröning nicht, dass er nur dreimal an der Rampe von Auschwitz gestanden haben wollte, wo die SS über Leben und Tod entschied. Als Buchhalter habe er „Ordnung gemacht, jeden Tag. Wie sollte es sonst gehen? Es kamen neue Züge“. Dafür habe man Platz gebraucht. Sie sagt: In 57 Tagen seien per Bahn 147 Transporte aus Ungarn in Auschwitz angekommen. Von 437 000 Menschen „kamen 340 000 sofort ins Gas und wurden verbrannt".

Für die Jüdin war die Verhandlung, die der Vorsitzende Richter Franz Kompisch einfühlsam führte, auch ein Blick auf das andere Deutschand, so wie sie es in Stadtallendorf erlebte. „Das Gericht macht es sehr gediegen“, sagte sie mit diesem Wort, bei dem man an eine lange vergangene gute Zeit denkt, „immer mit entsprechender Würde“. Sie sei dankbar, dass die Verbrechen von Auschwitz in einem Prozess zum Thema werden würden. Spät, aber eben nicht zu spät. Sie wünschte sich etwas, was ein Gericht nur schwer leisten kann: eine Abrechnung mit der deutschen Justiz, die jahrzehntelang den millionenfachen Mord in den Lagern nicht aufgeklärt hat oder Täter oftmals mit lächerlichen Strafen davonkommen ließ. Die Hitler und Himmler als Drahtzieher und die vielen anderen zumeist nur als willige Helfer einordnete.

Die alten Menschen, die als Zeugen sprachen, wirkten nicht verbittert. Éva Pusztai-Fahidi erklärte, warum das so sein kann: „Zu hassen ist ein Zustand, der die Seele verwüstet – man spürt ihn auf der Haut. Wenn man es so lässt, bleibt man ein Opfer. Ich will nicht hassen, weil ich meine Seele schonen will.“ Sie sitze dort aber nicht nur für sich, sondern auch für ihre 49 Verwandten, die in den Lagern starben. Das könne sie nicht vergessen, das dürfe niemand vergessen. „Sünden dieser Art verjähren nicht. Nicht, als sie getan wurden, nicht heute, morgen oder übermorgen.“

Das Landgericht verurteilte Gröning im Juli 2015 zu einer vierjährigen Haftstrafe. Revisionen der Verteidigung und von einigen Nebenklägern, der Bundesgerichtshof verwarf sie. Auch Verfahren gegen eine Verbüßung der Haftstrafe hatten keinen Erfolg, das Bundesverfassungsgericht befand, Grönings hohes Alter stehe dem nicht entgegen. Er kam in kein Gefängnis, er starb im März 2018 mit 97 Jahren.

Das Urteil gegen Gröning empfand sie als gerecht und einen Abschluss. Sie habe sich danach noch einen Traum erfüllt, habe ich gelesen, sie begann im Alter von 90 Jahren mit Bühnentanz. Noch ein Zeichen für Hoffnung und Zukunft. Nun ist Éva Pusztai-Fahidi gegangen. Vergessen ist sie nicht. Und auch nicht der Prozess. Carlo Eggeling

Danke an Andreas Tamme für die Fotos.

© Fotos: Tamme


Kommentare Kommentare


Zu diesem Artikel wurden bisher keine Kommentare abgegeben.



Kommentar posten Kommentar posten

Ihr Name*:

Ihre E-Mailadresse*:
Bleibt geheim und wird nicht angezeigt

Ihr Kommentar:



Lüneburg Aktuell auf Facebook