Uelzen, am Montag den 18.08.2025

LoCarlo: Wann man einen AfD-Politiker als Nazi und Rassisten nennen darf

von Winfried Machel am 18.07.2022


Das Amtsgericht verhandelt über den Streit zweier Politiker. Einer war als Polizist bei einer Hausbesetzung, der andere als Demonstrant

Als das Grundgesetz im Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat verabschiedet wurde, war es eine Antwort auf das 1945 untergegangene Unrechtsregime der Nationalsozialisten. "Abwehrrechte gegen den Staat", nannte Amtsrichter Wolfgang Pfleger in einem Prozess die vorläufige Verfassung am Montagmittag: "Gespickt mit Freiheitsrechten." Das Bundesverfassungsgericht, gegründet 1951, sicherte diese Rechte, baute sie aus. Die Urteilsverkündung in Saal 125 geriet ein wenig wie eine Vorlesung in Staatsbürgerkunde, denn es ging um Grundsätzliches: Wie weit reicht die Meinungsfreiheit? Was ist beleidigend?

Sehr weit. So wurde der ehemalige Ratsherr der Linke, Christoph Podstawa, freigesprochen: Er hatte den Polizisten und Ratsherrn der AfD, Dirk Neumann, während einer Demonstration als "Nazi" und "Rassisten" bezeichnet. Neumann hatte Anzeige erstattet, die Staatsanwaltschaft erließ einen Strafbefehl, den akzeptierte Podstawa nicht. Nun also die Verhandlung.

Worum es ging, in Kürze: Podstawa und ein Dutzend andere gehören zum Wohnprojekt Unfug am Rande Kaltenmoors, ein Haus, ein paar Wohnwagen. Die Stadt war mit den Mobilunterkünften nicht einverstanden, sie sah und sieht baurechtliche Verstöße, der Abstand zum Wald sei zu gering, Feuergefahr. Das Aus. Die Bewohner halten alles für vorgeschoben, sehen ein Politikum: Sie sollen verschwinden, weil sie links sind.

In der Nacht zum 2. Juli 2020 ziehen 30 bis 50 Unfug-Anhänger bengalobefackelt durch die Stadt ins Rote Rote Feld, um am Rotenbleicher Weg ein leerstehendes Uni-Gebäude zu besetzen, die Idee damals: Es könne als Wohnraum für viele dienen. Geschichte, inzwischen ist es abgerissen.

Die Polizei kommt, auch Hauptkommissar Neumann ist unter den Beamten, er hat Nachtschicht. Auf dem Weg schiebt Neumann nach eigener Aussage einen Mann von einer Straße, der die Straße nicht freimachen will, als die Beamten mit ihrem Bulli anrücken. Neumann und eine Kollegin schildern vor Gericht, dass Podstawa kurz nach dem Eintreffen als Nazi und Rassisten bezeichnet habe beziehungsweise als Repräsentanten einer Partei aus diesem Spektrum. Der Einsatzleiter der Polizei reagiert schnell, will deeskalieren. Er erteilt Neumann andere Aufgaben. Der Hauptkommissar und seine Kollegin müssen später aber wiederkommen: Nach einer Rangelei haben die Beamten einen Mann war in Gewahrsam genommen, Neumann und die Kollegin sollen ihn zur Wache bringen. Erneute Begegnung mit Podstawa, wieder eindeutige Worte. Wieder muss Neumann zügig vom Ort des Geschehens weichen.

Einige Tage später schreibt Podstawa einen Artikel auf der Unfug-Seite im Netz. Die AfD sei eine rassistische, völkische und anti-feministische Partei. Zudem prügle ein Ratsherr bei dem Polizeieinsatz "ganz vorne" mit.

Staatsanwalt Jan Christoph Hillmer betonte in seinem Plädoyer die Meinungsfreiheit, doch deren Grenzen seien hier überschritten, eine Schmähkritik stehe im Raum. Podstawa möge zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 30 Euro verurteilt werden. Podstawas Rechtsanwalt, Nils Spörkel, wies alles zurück: Meinungsfreiheit. Die Konsequenz sei ein Freispruch.

So kam es auch. Richter Pfleger wertete Podstawas Auftreten durchaus als "krass", aber eben abgedeckt durch Artikel 5 des Grundgesetzes. Er warf einen Blick auf AfD, die zunächst als Prüf-, später dann als Verdachtsfall vom Verfassungsschutz eingestuft wurde und wird. Er nannte mehrere Zitate von AfD-Politikern, die wenig mit Demokratie zu tun haben: etwa Worte der Bundes-Co-Vorsitzenden Alice Weidel, die auf dem Bundesparteitag 2017 befand, „politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte". Oder den Thüringer Björn Höcke, der zu den mächtigsten Männern der AfD zählt. In einem Interview mit dem Wallstreet Journal soll er den Nationalsozialismus relativiert haben: "Das große Problem ist, dass man Hitler als das absolut Böse darstellt. Wir wissen aber natürlich, dass es in der Geschichte kein Schwarz und kein Weiß gibt. Und dass es viele Grautöne gibt." Im Nachhinein hatte der Wahl-Thüringer Höcke diese Worte bestritten.

Wenn man sich Meuthen, Weidel und Höcke und deren Äußerungen anschaue, sei es "nicht an den Haaren herbeigezogen, wenn man das in einen Zusammenhang stellt". Wer sich für diese Partei als Funktionsträger einsetze, wisse für wen er Politik mache, sagte der Richter. Aus dem Rat kannten sich Podstawa und Neumann. Der Linke habe den Rechten in eben den größeren Zusammenhang gestellt und nicht nur auf den Einsatz am besetzten Haus abgehoben. "Nazi" sei keine "Formalbeleidigung und Herabwürdigung", der Begriff bezeichne das rechte Spektrum und ordne eine Person eben diesem zu. Ähnlich verhalte es sich mit dem Internet-Artikel Podstawas. Am Ende also ein Freispruch.

Staatsanwalt Hillmer sagte: Die Anklagebehörde prüfe, ob sie das Urteil akzeptiere oder Rechtsmittel einlege. Podstawa und seine Begleiter aus der Linken und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes freuten sich über das Urteil. "Ein Glas Sekt" werde es geben, sagte der 40-Jährige, der Landesgeschäftsführer der Linken ist. Dann müsse er wieder arbeiten -- im Herbst ist Landtagswahl.

Er warf eine Frage auf, die sich der Rat stellen müsste: Wie kann man mit Mitgliedern der AfD in einem demokratischen Gremium sitzen, wie geht man mit denen um, die am äußerst rechten Rand unterwegs sind? Gerade nach so einem Urteil, das die Partei sehr eindeutig einordnet.

Richter Pfleger achtet übrigens auf die Form: Als nicht alle Zuschauer aufstehen wollten, als das Gericht eintrat und später das Urteil gesprochen wurde, forderte er die Zuhörer auf, sich zu erheben: "Nicht für mich, sondern wegen der Sache." Hier werde Recht gesprochen. Das Grundgesetz und die Meinungsfreiheit haben verdient, dass man dafür auf- und einsteht.

Allerdings bleibt eine Frage, die sich das Amtsgericht stellen sollte. Das Gericht sitzt im Saal 125 vor einem Bleiglasfenster mit Wappen des ehemaligen Fürstentums Lüneburg. Zu sehen ist auch das Zeichen des ehemaligen Kreises Burgdorf: Ein Wolfskopf und eine sogenannte Wolfsangel, ein Symbol das Neonazis gern verwenden. Bei Wikipedia ist dazu zu lesen: "Das Wappen hat sein Vorbild in Hermann Löns’ Bauernchronik „Der Wehrwolf“. Die Handlung dieses Romans betrifft weitgehend den Bereich der jetzigen Gemeinde Burgwedel. Die Genehmigung des Wappens wurde am 20. April 1977 durch den Landkreis Hannover erteilt." Man könnte dort und hier darüber nachdenken, ob das Symbol noch zeitgemäß ist. Carlo Eggeling

Zum Nachlesen Artikel 5 Grundgesetz: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt."

Die Fotos zeigen die Polizeiaktion in der Nacht, Protest am Gericht, Richter Wolfgang Pfleger im Saal und den Angeklagten Christoph Podstawa (r.) mit seinem Verteidiger Nils Spörkel. Alle Fotos ca.

© Fotos: Carlo Eggeling


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