Welt verbessern in Lüneburg
von Carlo Eggeling am 01.07.2023
Meine Woche
Passt. Überall
Leben ist immer ein wenig Uni-Seminar. Zwei, drei Semester Lokalpolitik funkeln engagiert im Lebenslauf. Da geht frau mal in den Stadtrat, die Stadt ist übrigens egal, der Ansatz Weltverbessern passt generell. Heute Lüneburg, morgen anderswo. Zwei junge Linke verlassen den Stadtrat, um in der Welt weiter zu studieren. Eine war zwischendurch schon mal weg und schaltete sich von irgendwo her per Video zu, man konnte sehen, dass der Termin Stadtratssitzung das löffelnde Abendbrot ergänzte.
Im Kommunalwahlkampf waren die beiden Frauen eher selten an Ständen zu vertreten, passte nicht so, erzählen ältere Genossen. Bürger wählen Vertreterinnen in den Rat, in der Hoffnung, dass ihre Anliegen dort Gehör finden. Mieter, Kleingärtner, Sportler, Arbeiter, Eltern, Senioren, Geschäftsleute, Buskunden, Auto- und Radfahrer. Viele, die man nicht in der Bezugsgruppe in der Uni trifft.
Die eine sagt: "Ich bin sehr froh, diese Erfahrung im Stadtrat gemacht und mich in einigen Angelegenheiten für eine sozial gerechtere Stadt eingesetzt zu haben." Dazu gehöre unter anderem, dass die Hindenburgstraße umbenannt werden solle, statt eines umstrittenen Reichspräsidenten etwas Antifaschistisches. Die andere hebt hervor, "inspirierende und engagierte Menschen" kennengelernt und sich "für die Einführung kostenfreier Menstruationsartikel" eingesetzt zu haben. Nahe am Bürger, sicher. Passt überall, Lünen, Lüdenscheid und Lüneburg oder wie dieser Ort nochmal heißt.
Ob in der Uni noch Max Weber gelesen wird? Der Soziologe hat 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, darüber gesprochen, was "Politik als Beruf" bedeutet: "Mit der bloßen, als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst in einer ,Sache‘, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht." Weniger Selbstverwirklichung, sondern Verantwortung für andere und Ziele verfolgen. Aus der Zeit gefallen oder ungeheuer modern?
Wer in den Rat geht, braucht ein Jahr, um zu verstehen, wie das Räderwerk der Ausschüsse und das Zusammenspiel mit dem Rathaus funktioniert. Wie man Mehrheiten über Parteigrenzen bildet. Ein Abschied, wenn gerade klar ist, wie es läuft. Wie kann eine Partei, die doch in politischer Theorie zu Hause sein müsste, sich auf so eine Reise zu sich selbst einlassen? Klassensprecher statt Klassenkampf? Noch einmal Max Weber: "Politik wird mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele."
Eineinhalb Jahre dauert die Ratsperiode inzwischen. Die Linke fand nicht statt. Automatisch stimmten die Abgeordneten mit den Grünen ab. Auch da, wo eine eigene Position gefordert wäre, im Sozialen. Fragen an die Fraktionschefin erhielten bestenfalls wässrige Antworten. Nun ist Marianne Esders nachgerückt. Glücklicherweise. Ganz neu im Rat ergriff sie am Donnerstag das Wort, stellte Anträge. Eckte an, als sie monierte, das Wahlverfahren des Finanzdezernenten vernachlässige die Frauenförderung, nun komme ein "älterer, weißer Mann". Da fühlten sich einige getroffen. Meine Güte, sage ich als alter weißer Mann. Das regt auf, nicht die inhaltliche Kritik?
So langweilig, so vorhersehbar. Da spricht der Fraktionsvorsitzende der Grünen, um alles zu rechtfertigen. Das lassen sich vermeintliche starke grüne Kolleginnen gefallen. Wo blieben Frauen, parteiübergreifend, die sich hier ein Stück Mitsprache klauen ließen? Von einer Frau als Oberbürgermeisterin. Ich habe nach der Sitzung zu Hause erst mal Ina Deter gehört: "Neue Männer braucht das Land." Das war 1982 und ist geblieben: Ich sprüh's auf jede Häuserwand/ Ich such' den schönsten Mann im Land/ Ein Zettel an das schwarze Brett/ Er muss nett sein, auch im Bett.
Andere ältere Herren fanden es gar nicht schön, dass Daten zu Kandidaten vorher kursierten und bei Lüneburg aktuell zu lesen waren. Ein Liberaler, ich dachte, die stehen für mündige Bürger, barmte, so ein armer Kerl könnte Ärger bei seinem Arbeitgeber bekommen, wenn bekannt werde, dass er sich anderswo bewirbt. Im Ernst? Ein Chef muss das aushalten. Sonst scheint er kaum geeignet.
Ein sozialdemokratischer Ortsoberbürgermeister fällt seiner Fraktionsvorsitzenden in den Rücken, die versteht, dass Opposition Kritik bedeutet. Das freikreisende Schwergewicht empört sich im Netz: "Schade, dass die Journalisten nicht abwarten können, bis jemand gewählt ist." Man fragt sich, ob der Mann fernsieht, mal in Zeitungen wie Spiegel, Bild und Zeit schaut, die Kollegen warten nicht ab, bis es kleinen Königen gefällt, was vermeldet wird. Ihren Job beschreibt das Grundgesetz: Kontrolle der Mächtigen. Transparenz herstellen. Was in Berlin gilt, gilt in Lüneburg.
Sind wir wieder positiv, ist ja ein heiteres Wochenende. Ich bin gleich bei Freunden eingeladen. Deutsch-südamerikanisch-arabische Freundschaft. Da will ich diese Geschichte erzählen, die ich beim Kollegen Jan Fleischhauer von Focus gelesen habe: Jeremiah Thoronka aus Sierra Leone hat den Preis des Greentech-Festivals erhalten. Er wurde neulich in Berlin für zwei bahnbrechende Stromerzeugungsanlagen in seinem Heimatland ausgezeichnet. "Jeremiah war 17, als er ein spezielles Gerät erfand, das die Vibrationen von Fußgängern und Verkehr an belebten Straßen auffängt und in Elektrizität umwandelt”, heiße es in der Begründung der Jury. „Mit nur zwei Geräten versorgt sein Start-up Optim Energy mittlerweile mehrere Schulen und Haushalte in Gemeinden in seinem Heimatland Sierra Leone kostenlos mit Strom.“
Das Greentech-Festival feiert sich als „Europas größtes Nachhaltigkeitsfestival”. Bundeswirtschaftsministerium und Bundesaußenministerium unterstützen es. Der Journalist Alexander Wendt von Publico ging der Sache nach. Ergebnis: Das Gerät, für das Jeremiah Thoronka den „Green Award“ erhielt, hat noch nie jemand gesehen. Es gibt keinen Beleg, dass es funktioniert, es existiert nicht mal ein Foto oder wenigstens eine nähere technische Information. So schön wie im Märchen von Hans Christian Andersen Des Kaiser neue Kleider.
In Berlin wird Berliner Luft verkauft. Da passt die Antwort der Festivalleitung: Die Geräte würden, leider, nicht mehr existieren. Aber man habe den Preisträger als „Vorbild“ kennengelernt, der viele Menschen „für das Thema der Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen sensibilisieren und begeistern“ könne. Immerhin. Schöne Ideen sind doch was. Auch in Lüneburg. Carlo Eggeling
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